23 Besprechungsspionage
Als Prokurist einer Projektsteuerungsfirma saß ich regelmäßig mit dem Geschäftsführer und Eigentümer des Unternehmens zusammen, um verschiedene Projektbelange und interne Angelegenheiten zu besprechen. In der Regel saßen wir uns dabei gegenüber. Die Notizen, die ich zur Vorbereitung der Besprechung regelmäßig anfertigte, lagen vor mir auf dem Tisch. Irgendwann hatte ich den Verdacht, dass mein Gegenüber, vermeintlich unbeobachtet, meine Notizen über Kopf las. Gelegentlich fanden sich dort auch Anmerkungen, die mir als Gedächtnisstütze dienen sollten, und die nicht für fremde Augen bestimmt waren.
Beim nächsten Meeting hatte ich wieder meine Notizen auf dem Tisch. Diesmal hatte ich sie jedoch in der kleinstmöglichen, für mich gerade noch lesbaren Schrift und dazu noch in grau statt in schwarz ausgedruckt, mein "Kleingedrucktes" sozusagen. Amüsiert verfolgte ich dann die offensichtlichen Bemühungen meines Gesprächspartners, etwas vom Inhalt meines Papiers zu erhaschen. Irgendwann bemerkte er, dass er zu lange und zu offensichtlich auf meine Notizen gestarrt hatte, um unbemerkt zu bleiben. Ertappt, entschloss er sich mit einer Mischung aus Verlegenheit und Dreistigkeit zur Flucht nach vorne: "Das kann man ja gar nicht lesen", nur um eine spöttische Antwort zu erhalten: "Deswegen ist es ja auch so ausgedruckt".
Später unterhielten wir uns noch etwas über dieses Thema und er gestand mir, dass es durchaus seine Gewohnheit war, die Unterlagen seiner Verhandlungspartner in Besprechungen auf diese Art nach “brauchbaren Hinweisen” zu durchforsten, die ihm für seine Zwecke hilfreich erschienen und ihm einen Vorteil verschaffen sollten. Nicht gerade die “feine englische Art”, aber moralische Bedenken hatte er offensichtlich keine. Ich jedenfalls hatte eine Lektion gelernt.
Zu meinen Erfahrungen gehört auch der Projektleiter, der nach dem Telefonat eines Kollegen und nachdem dieser das Büro verlassen hat, die Wahlwiederholtaste drückt, um herauszufinden, mit wem dieser zuletzt telefoniert hat. Auch der Kollege, der sich das Zahlenschloss des geöffneten und leeren Aktenkoffers seines Chefs genau anschaute, brachte mich zum Nachdenken. Andere nutzen schon mal eine Gesprächspause, um unter einen Aktendeckel zu spinxen (so nannte der Mitarbeiter damals diese Unverschämtheit) oder um sich mit Stielaugen am Sitzplatz des Gesprächspartners “die Beine zu vertreten”, während dieser kurz das Besprechungszimmer verlassen hatte.
Ein weiterer Fall, bei dem sich die Verhandlungspartner extrem unvorsichtig verhielten, spielte sich in meinem Bekanntenkreis ab. Eine junge Sachbearbeiterin, Inderin mit deutschem Nachnamen, europäisch gekleidet, fließendem, akzentfreiem Deutsch, wurde von ihrem Exportleiter gebeten, an einer Verhandlung mit einer Gruppe indischer Kunden teilzunehmen. Sie wurde kurz mit Nachnamen vorgestellt und hörte unfreiwillig und mit einigem Erstaunen, dass sich die ausländischen Gäste ganz selbstverständlich und ungeniert in ihrer Muttersprache über ihre deutschen Verhandlungspartner, die Verhandlungstaktik, die Konditionen etc. unterhielten. Als kleinstes Licht in der Gruppe wusste Sie gar nicht, was sie sagen sollte um diese für sie peinliche Situation zu bereinigen. Da die Gäste aus einem Land kamen, das alleine über ein Dutzend offizieller Sprachen (nicht etwa Dialekte) kennt, fühlten sie sich in Deutschland mit ihrer “exotischen Geheimsprache” so sicher, dass sie offenbar alle Vorsicht vergessen hatten. Als nach geraumer Zeit einer der indischen Verhandlungspartner aufgrund des Aussehens der Mitarbeiterin aufmerksam wurde und nachfragte, erhielt er zur größten Verlegenheit der gesamten Gruppe eine fließende Antwort - in seiner Muttersprache. Sorry, zu spät!
Ähnliche Fälle, wesentlich harmloser jedoch, sind mir mit deutschen Touristen als einzige Ausländer im Überlandbus irgendwo in Asien oder ausländischen Reisenden in der deutschen Straßenbahn bekannt. Plötzlich und unerwartet bot man ihnen Hilfe in ihrer Muttersprache an, als sie gerade ein Problem diskutiert hatten oder ernteten pikierte Kommentare zu kritischen Äußerungen, die sie im Vertrauen auf die eigene Mutter(geheim)sprache ausgetauscht hatten.
Alltägliche Situation sind heutzutage Reisende in Zügen oder Flugzeugen, die sich ganz ungeniert über vertrauliche Personalangelegenheiten, Verhandlungsergebnisse, Auftragskonditionen und rechtliche Angelegenheiten unterhalten, lautstark mobil telefonieren, oder dem Nachbarn Ausblick auf den Laptopbildschirm bieten im Vertrauen darauf, dass sie in der anonymen Masse untergehen und man sie oder ihre Firma ja eh nicht kennt und beachtet. Dabei reicht oft eine gute Branchenkenntnis aus, um zu verstehen, worum und um wen es geht.
Wat lernt uns das?
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!
Ohne gleich paranoid zu werden, muss man in Verhandlungssituationen leider auch mit schmutzigen Tricks rechnen. Es muss nicht immer gleich eine Aktion von hoher kriminelle Energie sein. Viel schneller und häufiger werden ethische Grundsätze verletzt und Grenzen des Anstands überschritten, Dinge, mit denen man unter fairen Geschäftspartnern nicht rechnet. Anzug und Krawatte, äußere Höflichkeit und geschliffenes Auftreten sind dabei kein Garant für korrektes Verhalten. Naivität und allzu große Sorglosigkeit werden unter Umständen bestraft. Ohne dem Partner gleich böse Absichten unterstellen zu wollen, sollte man grundsätzlich immer eine gewisse Vorsicht walten lassen.
- Manche “Spezialisten” können recht schnell und gut vom gegenüberliegenden Platz aus “über Kopf” lesen - und manche tun es auch.
- Vertrauliche Unterlagen gehören nicht auf den Tisch, wenn man alleine ist und den Platz auch nur kurzzeitig verlässt.
- Vertrauliche Gespräche in einer fremden Firma sollte man nur über das eigene Mobiltelefon und nur von sicheren Stellen aus führen. Es muss nicht immer gleich jemand mithören. Manchmal reicht auch schon die Taste "Wahlwiederholung", um zu enthüllen, mit wem der Gesprächspartner Kontakt hatte.
- Offene Aktenkoffer zeigen jedem mit böser Absicht ganz unkompliziert, welcher Zahlencode zum Öffnen dient, sollte er einmal unbeaufsichtigt und verschlossen irgendwo herumstehen.
- Man sollte sich gut überlegen, welche Inhalte auf dem Laptop zu sehen sind, wenn man in der Öffentlichkeit arbeitet. Der Hintermann hat vielleicht bessere Augen als Sie.
- Sich in einer fremden Sprache unterhalten zu können, bietet keine Sicherheit vor ungebetenen Mithörern. Negative Bemerkungen können einen durchaus in Probleme bringen.
- Halb geöffnete Türen zum Sekretariat sind für manche Besucher schon fast eine Einladung für lange Ohren.